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Kapitel 5

 

Übergeordnete organisationsrechtliche Prinzipien

 

In einem weiteren Schritt soll das bisher gefundene Ergebnis an zwei übergeordneten körperschaftlichen Organisationsprinzipien überprüft werden.

 

1. Folgerungen aus der Theorie der Aktiendemokratie

 

Stellt sich das Problem der beratenden Tätigkeit des Aufsichtsrates als ein strukturelles Grundproblem aktienrechtlicher Organisation dar, so verspricht ein Blick auf die in der Literatur z.T. vertretene These der sog. Aktiendemokrtie hilfreich zu sein; diese Theorie leitet die grundlegende Stellung der aktienrechtlichen Organe zueinander aus einer Parallele zur Staatsorganisation, insbesondere dem Prinzip der Gewaltenteilung, ab.

 

Der Aufsichtsrat entspräche nach dieser Betrachtungsweise der Rechtsprechung, der - jedenfalls nach unserem Verständnis - jede beratende Tätigkeit fremd ist, deren alleinige Aufgabe die Kontrolle der Rechtmäßigkeit ist, nicht aber die Ausübung gestalterischen Ermessens oder auch nur eine Hilfestellung bei der Ermessensausübung (vgl. etwa § 114 VwGO).

 

1.) Die Theorie der Aktiendemokratie beruht im wesentlichen auf drei Grundgedanken1:

 

a.) Parallele Entwicklung von Staatsform und Aktiengesellschaft

 

b.) Identische Organisationsgliederung von Staat und sonstigen Verbänden.

 

c.) Demokratische Verfassung als wünschenswerte und richtige Verfassung sowohl in der Staats- wie auch der Aktienorganisation.

  

2. Diese Theorie ist seit jeher starken Vorbehalten unterworfen.

 

a.) Schon eine parallele Entwicklung von Staat und Aktiengesellschaft ist nicht immer festzustellen. Wenn z.B. ein Hauptanliegen der Novelle 1884 die Festigung des gewaltengeteilten "republikanischen" Prinzips innerhalb der Aktiengesellschaft mit der Hauptversammlung als oberstem Willensorgan, dem Vorstand als Exekutivorgan und dem Aufsichtsrat als Kontrollorgan ist, so liegt darin eine augenfällige Diskrepanz zu den damaligen politischen Verhältnissen.

 

Auf der anderen Seite sind aber gewisse Entwicklungsparallelen durchaus erkennbar, so v.a. bei der Novelle 1937 (siehe schon oben Kap. 1 Nr. 5). Man betrachte nur die Stellungnahme von Geßler aus dem Jahre 1937, die Demokratie sei dem Leben fremd, daher müsse auch das AktG mit dem demokratischen Aufbau der Verfassung der Aktiengesellschaft brechen2.

 

Im übrigen läßt sich die Theorie der Aktiendemokratie durch Diskrepanzen zwischen Staats- und Wirtschaftsgeschichte alleine nicht falsifizieren. Auch ohne gemeinsame Entwicklung können sich Staat und Aktiengesellschaft auf durchaus getrennten Wegen hin zu einem Endpunkt der Demokratie hinbewegen.

 

b.) Dem Staat und sonstigen Körperschaften liegt ferner ein wesensmäßig strukturell gleiches Organisationsprinzip zugrunde.

 

Bei beiden wendet sich der einzelne vom "Einzelkampf" ab, um sich zur effektiven Verwirklichung bestimmter Interessen mit anderen zusammenzuschließen. Dies erkauft er sich durch den Verlust eigener Rechtsmacht. Da der einzelne in der Körperschaft nicht zum bloßen "Statisten" verkommen möchte, muß gewährleistet sein, daß jeder Akt der Körperschaft - zumindest mittelbar - auf den Willen der Mitglieder in Form einer Mitgliederversammlung zurückgeführt werden kann (sog. ununterbrochene demokratische Legitimationskette). Entscheidend ist, daß die Körperschaft nicht zum Selbstläufer wird, sondern ihre Legitimation allein von ihren Mitgliedern ableitet3; deshalb muß die körperschaftliche Organisation allein an den Interessen ihrer Mitglieder ausgerichtet sein; dem entspricht die demokratische Organisation4 und der Gedanke der Gewaltenteilung.

 

c.) Dem wird wiederum entgegengehalten, die Demokratie sei als politisches Ideal in der Aktiengesellschaft nicht zu verwirklichen; eine Übertragung demokratischer Grundsätze auf die erwerbswirtschaftliche Körperschaft sei nicht möglich. Ein Unternehmen sei kein Staat im kleinen, der Vorstand keine Staatsregierung, die Hauptversammlung kein Parlament5. Die Beziehung des Aktionärs sei mehr vermögensrechtlicher Art und damit verschiedenartig im Vergleich zum staatlichen Aufbau6. Es ist insofern aber zu berücksichtigen, daß die Aktiengesellschaft ebenso wie der Staat trotz unterschiedlicher Aufgabenstellung eine personale Interessengemeinschaft ist. Der Unterschied liegt lediglich im Umfang der Interessen. Während der Staat auf die Verwirklichung eines Inbegriffs menschlicher Interessen angelegt ist, betrifft die Aktiengesellschaft lediglich einen Ausschnitt menschlicher Interessen, nämlich die erwerbswirtschaftliche Betätigung in Form einer Erwerbsgemeinschaft. Auch diese (grundrechtlich geschützte, Art. 14, 12 GG) erwerbswirtschaftliche Tätigkeit ist personaler Natur. Der Hinweis auf den gegenüber der vermögensrechtlich geprägten Aktiengesellschaft andersartigen Bereich der politischen Demokratie7 geht daher im Grundsatz fehl:

 

 

3.) Kann der Theorie der Aktiendemokratie somit im Grundsatz gefolgt werden, so ist die nächste Frage, welche Folgerungen daraus für den Aufgabenbereich des Aufsichtsrates v.a. im Hinblick auf die Beratungsaufgabe zu ziehen sind. Die Parallele ist hier zwischen Rechtsprechung und Aufsichtsrat zu ziehen.

 

a.) Zunächst ist festzustellen, daß die Parallele zwischen Staat und Aktiengesellschaft natürlich nur die groben Strukturelemente betrifft. Eine auch Einzelheiten betreffende schematische Übertragung verbietet sich von selbst.

 

b.) Zum anderen ist zu berücksichtigen, daß die Ausgestaltung der Tätigkeit von Gerichten und Aufsichtsrat schon aufgrund klarer gesetzlicher Vorgaben unterschiedlich ausgestaltet ist. Während die Gerichtsbarkeit grundsätzlich nur auf Initiative von Körperschaftsmitgliedern tätig wird, handelt der Aufsichtsrat "von Amts wegen", ohne daß die Aktionäre ein Antragsrecht hätten. Eine Art Antragsrecht steht alleine dem Vorstand zu, der z.B. die Genehmigung des Aufsichtsrates zu genehmigungsbedürftigen Rechtsgeschäften einholt (§ 111 Abs. 4 S. 1 AktG). Obwohl Rechtsprechung und Aufsichtsrat dieselbe Grundfunktion "Kontrolle" haben, unterscheiden sie sich in der inhaltlichen Ausgestaltung dieser Aufgabe in grundlegender Weise.

 

c.) Es sind aber auch Parallelen zwischen Aufsichtsrat und Gerichten festzustellen, insbesondere hinsichtlich der unabhängigen, starken Stellung:

 

 

Allerdings ist die vermeintlich unabhängige Stellung des Aufsichtsrates dadurch stark eingeschränkt, daß er jederzeit ohne wichtigen Grund8 abberufen werden kann (§ 103 Abs. 1 S. 1 AktG), wobei allerdings immerhin eine ¾-Mehrheit erforderlich ist (§ 103 Abs. 1 S. 2 AktG), die ihrerseits aber wiederum in der Satzung bis hin zur einfachen Stimmenmehrheit abgeändert werden kann9.

 

Im Ergebnis ist damit festzuhalten: Im Rahmen der Theorie der Aktiendemokratie weisen Aufsichtsrat und die Rechtsprechung Gemeinsamkeiten und Unterschiede auf:

 

a ) Gemeinsam ist das ZIEL: die Kontrolle des Exekutivorgans

 

b ) Angenähert ist die STELLUNG der Organe (Unabhängigkeit, die beim Aufsichtsrat aber stark entwertet ist).

 

g ) Verschieden sind die MITTEL und BEFUGNISSE der Organe.

 

Da die Beratung im Rahmen der Kontrolltätigkeit zu Befugnissen des Aufsichtsrates (g ) zählt, ist im Ergebnis von einem Vergleich insoweit grundsätzlich Abstand zu nehmen.

 

Lediglich ein tendenzieller Vergleich mag gestattet sein. Bezüglich der Beratungsaufgabe ist insoweit anzumerken, daß diese der Rechtsprechung als Kontrollorgan wesensmäßig völlig fremd ist. Zwar war diese im Aufgabenkatalog des BVerfGG früher tatsächlich vorgesehen. Das BVerfGG v. 12.3.5110 enthielt in § 97 für Bundestag, Bundesrat, Bundesregierung und Bundespräsidenten die Möglichkeit, vom BVerfG Rechtsgutachten zu verlangen. Zum einen bezogen sich solche Rechtsgutachten aber natürlich nur auf die Rechtmäßigkeit und niemals auf die Zweckmäßigkeit der Handlungen anderer Staatsorgane. Zum anderen wurde bald erkannt, daß eine Beratungstätigkeit dem BVerfG als Kontrollinstanz völlig wesensfremd ist11. Das Gericht hat den politischen Instanzen bei deren gestaltender Tätigkeit im Rahmen des ihnen zustehenden Ermessens keinen Beistand zu leisten.

 

Im Ergebnis läßt sich somit feststellen, daß ein vorsichtiger Vergleich auf Basis der aktiendemokratischen Idee gegen eine beratende Tätigkeit des Aufsichtsrates spricht, dieser Vergleich aber letztlich keine entscheidende Interpretationsbedeutung hat, da die Befugnisse von Aufsichtsrat und Rechtsprechung sehr unterschiedlich ausgestaltet sind12.

 

 

2. Beratung als immanenter Teil der Aufsicht

Ein allgemeines Rechtsprinzip anhand der Kommunalaufsicht ?

 

Wie eben anhand der Theorie von der Aktiendemokratie dargestellt, sind im Rahmen aktienrechtlicher Probleme Vergleiche mit - auf den ersten Blick gleichgelagerten - öffentlich-rechtlichen Sachverhalten wenig ergiebig.

 

Dennoch soll an dieser Stelle kurz auf einen Vergleich mit der kommunalrechtlichen Aufsicht eingegangen werden, da ich in der Diskussion mit unbefangenen Gesprächspartnern verschiedentlich spontan auf einen solchen Vergleich angesprochen wurde.

  

1.) In der Kommunalaufsicht ist die Beratung eine wichtige Komponente der Aufsicht. Zwar ist die Beratungsaufgabe in den Kommunalgesetzen nur vereinzelt ausdrücklich genannt, wie z.B. in Art. 108 BayGO und Art. 94 BayLKrO:

 

"Die Aufsichtsbehörden sollen die Landkreise/Gemeinden bei der Erfüllung ihrer Aufgaben verständnisvoll beraten, fördern und schützen sowie die Entschlußkraft und die Selbstverantwortung der Kreisorgane/Gemeindeorgane stärken."

 

Aber auch in den Ländern, in denen die Beratung nicht ausdrücklich im Gesetz aufgeführt wird, ist diese als Teil der Kommunalaufsicht anerkannt13.

 

2.) Die Beratung im Rahmen der Kommunalaufsicht rechtfertigt sich aus der besonderen Stellung der Aufsichtsbehörde zur den Kommune, die auf das Verhältnis zwischen Vorstand und Aufsichtsrat nicht übertragbar ist.

 

a.) Die Beratung der Kommunalaufsichtsbehörde ist eine Hilfestellung für die Gemeinde, keine eigentliche Kontrolle. Die Kommunalaufsicht ist Eingriffsverwaltung (Eingriff in Art. 28 Abs. 2 GG) und darf sich daher zumindest im eigenen Wirkungskreis nur auf die Gesetzmäßigkeit beziehen (vgl. etwa Art. 109 Abs. 1 BayGO). Eine darüberhinausgehende Beratung ist ein bloßer Unterfall der Amtshilfe.

 

b.) Nun wohnt aber auch dieser unverbindlichen Amtshilfe die Gefahr inne, daß sie sich ständig ungebeten aufdrängt und die eigenverantwortlichen Entscheidungsprozesse der Kommune lähmt.

 

c.) Im Gegensatz zum Aktienrecht existieren aber im Kommunalaufsichtsrecht hinreichende Sicherungsmittel, um dieser Gefahr wirksam vorzubeugen; es sind umfassende verwaltungsrechtliche Rechtsbehelfe in Form der Anfechtungs- und allgemeinen Leistungsklage gegen aufsichtliche Akte vorhanden, von denen die Kommunen in der Praxis auch umfassenden Gebrauch machen.

 

Bei Staat und Kommune handelt es sich um unabhängige, rechtlich selbständige juristische Personen, die in einem natürlichen Interessengegensatz stehen; während die Kommune die örtlichen Verhältnisse im Auge hat, steht der Staat im Dienste überörtlicher, staatlicher Interessen. Dieser Interessengegensatz ist ein Sicherungsmechanismus gegen den Mißbrauch der Beratung als Mittel der staatlichen Beeinflussung der Kommune. Diese ist sehr wohl in der Lage, einen "Beratungsterror" der Staatsaufsicht zurückzuweisen oder einfach zu ignorieren.

 

Ein solcher Sicherungsmechanismus fehlt im Aktienrecht völlig. Vorstand und Aufsichtsrat sind im Gegensatz zu getrennten Rechtsträgern von Kommune und Aufsichtsbehörde Organe ein und derselben juristischen Person. An die Stelle der Unabhängigkeit und des Interessengegensatzes tritt eine rechtliche und faktische Abhängigkeit zwischen Aufsichtsrat und Vorstand der Aktiengesellschaft. Im Gegensatz zum Kommunalrecht, das ein ausgedehntes Rechtsschutzsystem gegen aufsichtliche Maßnahmen vorsieht (vgl. etwa Art. 120 BayGO), ist im Aktienrecht ein sog. Interorganstreit unzulässig oder stößt jedenfalls v.a. im Hinblick auf unerwünschte Beratung auf unüberwindbare praktische Probleme (siehe oben Kap. 4 Nr. 2 II a). Anders als der Beratung im Kommunalaufsichtsrecht wohnt einer ausgedehnten Beratungsaufgabe des aktienrechtlichen Aufsichtsrates die Gefahr eines weder rechtlich noch faktisch zu verhindernden Mißbrauchs inne.

 

Im Ergebnis läßt sich damit festhalten, daß sowohl im Verhältnis der Kommune zur Aufsichtsbehörde als auch im Rechtsschutzsystem gegen kommunalaufsichtliche Maßnahmen so große Unterschiede zum aktienrechtlichen Aufsichtssystem bestehen, daß ein diesbezüglicher Vergleich von vornherein ungeeignet ist.

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1 Wiethölter S. 49 f.

2 Geßler, JW 1937 S. 63.

3 Vgl. dazu folgende Äußerung des U.S. Supreme Court: "It would be preposterous to leave the real owners of the corporate property at the mercy of their agents, and the law has not done so.", Rogers v. Hill 289 U.S. 582; siehe ebenso: In Re Griffing Iron Co. 63 N.J.L. 168 (New Jersey); Matter of Auer v. Dressel 306 N.Y. 427 (N.Y.).

4 GroßKomm-Meyer-Landrut § 1 AktG Anm. 8b.

5 RegEntw, Begrdg Vb zum 4. Teil, Verfassung der Aktiengesellschaft; Raiser, Verhdlgen 39. DJT, B64; Passow, Die AktGes S. 479, 492 f .

6 Vgl. Wiethölter S. 80.

7 Vgl. Raiser 39. DJT B64.

8 Auch in der Satzung kann das Erfordernis eines wichtigen Grundes nicht vorgesehen werden, § 23 Abs. 5 AktG, h.M., God-Wilh § 103 AktG Anm. 2; Baumb-Hueck § 103 AktG Rdnr. 3 a.E.; offenbar ebenso: Geßler-Geßler § 103 AktG Rdnr. 6; differenzierend GroßKomm-Meyer-Landrut § 103 Anm. 2: bei Vorliegen eines wichtigen Grundes kann eine andere Mehrheit vorgesehen werden.

9 AllgM, z.B. Baumb-Hueck § 103 AktG Rdnr. 3; GroßKomm-Meyer-Landrut § 103 AktG Anm. 2; nicht einmal Mehrheit des vertretenen Kapitals unabdingbar.

10 BGBl. I S. 243.

11 Siehe Willms, DRiZ 1955 S. 127; Lechner BVerfGG 1. Aufl. 1954 § 97 Anm. 2 unter Hinweis auf Beschl. des BVerfGG v. 8.12.52: "die Erstattung von Rechtsgutachten ist daher grundsätzlich der richterlichen Funktion wesensfremd".

12 Vgl. Bauer, Organklagen, S. 45, der ebenfalls von einer "vorsichtigen Parallele zu dem Gedanken der staatlichen Gewaltenteilung" spricht.

13 Broß/Scholler, KommRe S. 211.

 

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