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Kapitel 7

 

Beratung im mitbestimmten Aufsichtsrat

 

Es stellt sich weiter die Frage, ob Inhalt und Umfang der Beratung beim mitbestimmten Aufsichtsrat in einem anderen Lichte zu beurteilen sind.

 

 1. Gleichberechtigungsgrundsatz

 

Zunächst ist festzuhalten, daß hinsichtlich Aufgabeninhalt und -umfang nicht zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern im Aufsichtsrat differenziert werden kann. Aufgrund des sog. Gleichberechtigungsgrundsatzes haben alle Aufsichtsratsmitglieder die gleichen Rechte und Pflichten als unabdingbares Merkmal der in das bestehende Gesellschaftsrecht eingefügten Mitbestimmung1. Alle Aufsichtsratsmitglieder haben ein gleiches Recht auf Information, auf Teilnahme an den Sitzungen und auf Mitwirkung bei allen Beratungen und Entscheidungen2.

 

Wenn man dem Aufsichtsrat eine Beratungskompetenz zubilligen möchte, dann haben daran Arbeitnehmervertreter wie Anteilseignervertreter gleichermaßen mitzuwirken. Diesbezügliche Befürchtungen, die Arbeitnehmervertreter könnten hieran wegen mangelnder Qualifikation gehindert sein, haben sich in der Praxis als unbegründet erwiesen. Im übrigen ist darauf hinzuweisen, daß auch im Aufsichtsrat selbst eine gewisse Arbeitsteilung dergestalt möglich ist, daß einzelne Aufsichtsratsbeschlüsse von jeweils bestimmten Aufsichtsratsmitgliedern vorbereitet werden (nicht gefaßt werden, der Beschluß selbst muß dann immer vom Gesamtgremium getragen werden), die im Hinblick auf eine bestimmte Materie besondere Sachkenntnisse haben. Auch die Bildung von Ausschüssen bietet sich hier an (siehe oben Kap. 6 Nr. 4).

 

 

2. Vorrang des Gesellschaftsrechts vor dem Mitbestimmungsrecht

 

Ob bei mitbestimmten Aktiengesellschaften eine über den hier entwickelten Umfang hinausgehende Einflußnahme auf die Geschäftsführung im Wege der Beratung denkbar ist, hängt davon ab, ob die Verwirklichung der Ziele des MitbestG zu einer Modifizierung der dem Aufsichtsrat nach dem AktG zustehenden Befugnisse zwingt.

 

a.) Das MitbestG hat auf eine ausdrückliche Niederlegung der Mitbestimmungsziele verzichtet. Es finden sich weder eine Präambel noch irgendwelche konkreten Verhaltensnormen (wie z.B. § 2 Abs. 1 BetrVG im Betriebsverfassungsrecht), aus denen sich die Ziele des Gesetzes entnehmen ließen. Das MitbestG ist rein verfahrensrechtlich organisatorischen Charakters3.

 

b.) Aufgrund dieses formal-organisatorischen Charakters des MitbestG kommen manche Autoren zu dem Ergebnis, daß ein Rückgriff auf das allgemeine Mitbestimmungstelos oder auf einzelnen Vorschriften immanente Wertungen ohne durchschlagende Interpretationsbedeutung sei4. Der vorwiegend verfahrensmäßig-technische Charakter der Vorschriften des Mitbestimmungsgesetzes ließe seiner Struktur nach einen weitaus geringeren Spielraum für Auslegung und Rechtsfortbildung als bei Bestimmungen mit "normativen" oder gar generalklauselartigen Tatbestandsmerkmalen.

 

Dieser Ansicht wird entgegengehalten, daß dadurch die Gesetzesinterpretation in unzulässiger Weise verkürzt werde. Der Sinngehalt müsse eben durch eine umfassende Gesamtanalyse geklärt werden5. Aufgrund einer solchen Gesamtanalyse kommt Kroneberg dann zu dem Ergebnis, daß trotz der fehlenden Gleichgewichtigkeit der Arbeitnehmervertretung bei zumindest numerisch paritätischer Besetzung eine verstärkte institutionelle Verankerung der Sozialbindung des Eigentums zum Ausdruck komme. Die Arbeitnehmer könnten nunmehr am Willensbildungs- und Entscheidungsprozeß der Unternehmenspolitik teilhaben6.

 

Gewonnen ist durch dieses (offensichtliche) materielle Gesetzestelos nichts. Denn der Gesetzgeber hat abgesehen von § 32 MitbestG ersichtlich darauf verzichtet, dem mitbestimmten Aufsichtsrat zur Verwirklichung dieses diffusen Zieles bestimmte Handlungskompetenzen oder -vorgaben an die Hand zu geben. Er hat sich vielmehr darauf beschränkt, die Besetzung und das Wahlverfahren des mitbestimmten Organs (§§ 6-24 MitbestG) und dessen Beschlußfassung (§§ 28-30 MitbestG) ohne irgendwelche inhaltliche Vorgaben zu regeln. Im Gegenteil ist in § 25 MitbestG sogar auf das geltende Gesellschaftsrecht verwiesen, für die Aktiengesellschaft gemäß § 25 Abs. 1 Ziff. 1 MitbestG auf das AktG und damit die in ihm enthaltenen Vorschriften für den Aufsichtsrat. Der Gesetzgeber hat damit einen sog. VORRANG DES GESELLSCHAFTSRECHTS begründet7. Das Mitbestimmungspostulat erschöpft sich in einem formalen Organisationsgesetz8. Das materielle Mitbestimmungspostulat ist bloßes Motiv geblieben. Nach dem RegEntwurf9 sollte das Mitbestimmungsrecht unter Beibehaltung des bestehenden Gesellschaftsrechts geregelt werden, indem mitbestimmungsrechtliche Regelungen in das bestehende Gesellschaftsrecht eingefügt wurden. Es war nicht beabsichtigt, auch das Unternehmensrecht neu zu gestalten.

 

Dem wird von den Verfechtern des VORRANGES DES MITBESTIMMUNGSRECHTS10 entgegengehalten, nach dem klaren Wortlaut des Gesetzes würden die allgemeinen gesellschaftsrechtlichen Regelungen nur insoweit gelten, als sie den §§ 27-29, 31, 32 MitbestG nicht entgegenstünden (§ 25 Abs. 1 MitbestG), also käme vorrangig das Mitbestimmungsrecht zur Geltung. Insoweit ist aber anzumerken, daß das MitbestG (abgesehen von § 32) eben nur bezüglich der formalen Organisation von Gesellschaftsorganen mit dem Gesellschaftsrecht kollidiert (und insoweit natürlich vorrangig ist) und im übrigen hinsichtlich des materiellen Inhalts der Mitbestimmung überhaupt keine Regelungskompetenz entfaltet. Was das MitbestG nicht regelt, kann auch nicht gegenüber dem Gesellschaftsrecht vorrangig sein. Daraus folgt auch der allgemein anerkannte Grundsatz, daß die materielle Reichweite der Mitbestimmung rechtsformabhängig ist, d.h. jeweils die Einflußmöglichkeiten der Arbeitnehmermitbestimmung vorhanden sind, die in der jeweiligen Rechtsform des Unternehmens für das mitbestimmte Organ vorgesehen sind11.

 

 

3. Ergebnis und Schlußfolgerungen für die Beratungsaufgabe

 

Im Ergebnis ist somit festzuhalten, daß die gesellschaftsrechtlichen Normen betreffend die Kompetenzen eines mitbestimmten Organs allein gesellschaftsrechtlich auszulegen sind.12

 

Für den hier interessierenden Bereich der Beratung als Teil von § 111 Abs. 1 AktG gilt damit:

 

§ 111 Abs. 1 AktG ist "autonom" anhand des AktG auszulegen, unabhängig davon, ob der Aufsichtsrat mitbestimmt ist oder nicht.

 

Ein mitbestimmter Aufsichtsrat erfordert daher keinerlei Abweichung von dem bisher gefundenen Ergebnis. Eine Erweiterung der Beratungsaufgabe etwa dahingehend, daß der mitbestimmte Aufsichtsrat die Arbeitnehmerinteressen im Wege einer mehr oder weniger unverbindlichen Beratung in die Geschäftsführung einbringen könnte, kommt nicht in Betracht.

 

 

4. Verfassungsrechtliche Betrachtung

 

Ein anderes Ergebnis würde im Übrigen auch auf verfassungsrechtliche Bedenken stoßen.

 

a.) Auch wenn die Rechtsstellung der Aktionäre durch einen mitbestimmten Aufsichtsrat nicht unmittelbar verändert wird, so führt die zwingende Aufnahme von Nicht-Gesellschaftern in ein Organ des Unternehmens doch zu einer Veränderung der institutionellen Funktionsweise der Gesellschaft13; darin liegt ein Eingriff sowohl in das Anteilseigentum der Aktionäre (Art. 14 GG) als auch der Gesellschaft (Art. 14, 19 Abs. 3 GG)14. Dieser Grundrechtseingriff ist nach heute gefestigter Ansicht dadurch gerechtfertigt, daß die unternehmerische Betätigung durch die Beschäftigung von abhängigen Arbeitnehmern die Belange anderer Rechtssubjekte berührt und damit einen hohen sozialen Bezug hat. Deshalb steht dem Gesetzgeber diese ein weiter Ermessensspielraum bei der Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums (Art. 14 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 GG) zu15. In diesem Rahmen ist die Mitbestimmung nach Ansicht des BVerfG noch verhältnismäßig und damit verfassungsmäßig, wobei v.a. auch eine Rolle spielt, daß das Anteilseigentum in seinem mitgliedschaftsrechtlichen und seinem vermögensrechtlichen Element nur (gesellschaftsrechtlich) vermitteltes Eigentum ist16, das von vornherein stärkeren Einschränkungen unterliegen muß als das Sacheigentum.

  

b.) Allerdings sieht das BVerfG das MitbestG als GRENZFALL an17, der nur unter folgenden Prämissen aufrechterhalten werden kann:

 

(1) Trotz numerisch paritätischer Besetzung liegt aufgrund der Zweitstimme des Aufsichtsratsvorsitzenden (§ 29 Abs. 2, 31 Abs. 4 MitbestG) und des Wahlverfahrens hinsichtlich des Aufsichtsratsvorsitzenden (§ 27 MitbestG) keine echte paritätische Mitbestimmung vor, da aufgrund des leichten Übergewichts der Anteilseigner keinem Einigungszwang mit den Arbeitnehmervertretern unterliegen und es deshalb zu einer Lähmung der Gesellschaft in der Praxis nicht komme. Allerdings stellt das in BVerfG insoweit klar, daß der Gesetzgeber stets überprüfen muß, ob sich seine diesbezügliche verfassungsrechtliche Prognose als zutreffend erwiesen hat18.

 (2) Weiterhin stützt das BVerfG seine Entscheidung darauf, daß die eigenverantwortliche Nutzung des Kapitals der Anteilseigner weiter dem Vertretungs- und Leistungsorgan obliegt (§ 76 Abs. 1 AktG). Es bleibe grundsätzlich bei der ausschließlichen Zuständigkeit des Vorstandes zur Führung der Geschäfte19. Während die Begründung des Regierungsentwurfes noch von einer "gleichberechtigten und gleichgewichtigen Teilnahme von Anteilseignern und Arbeitnehmern an den Entscheidungsprozessen im Unternehmen" ausgegangen war20, sei dieses Ziel im MitbestG nicht verwirklicht worden. Der maßgebliche Einfluß verbleibe bei den Anteilseignern, so daß eine gleichgewichtige Teilhabe der Arbeitnehmer nicht erreicht sei und auch nicht erreicht sein dürfe.

 

In diesen beiden Prämissen kommen die sog. "Schranken-Schranken" des Grundrechtseingriffs zum Ausdruck, die hier darin bestehen, daß

 

 

 

Der Aufsichtsrat des AktG taste zwar die ausschließliche Zuständigkeit des Vorstandes zur Geschäftsführung nicht an, sei jedoch "kein unbedeutendes Unternehmensorgan"21, das insbesondere durch die Befugnis zur Bestellung und Abberufung des Vorstandes (§ 31 Abs. 1 MitbestG i.V.m. § 84 f AktG) und im Wege von Zustimmungsvorbehalten (§ 25 Abs. 1 MitbestG iVm § 111 Abs. 4 S. 2 AktG) "in nicht unerheblichem Umfang auf die Unternehmensentscheidungen Einfluß" nehmen kann.

 

Daraus folgt, daß es sich bei den Kompetenzen des Aufsichtsrates, die diesem nach dem AktG zukommen, ohnehin bereits um einen Grenzfall im Hinblick auf die Mitbestimmung handelt. Eine Mitbestimmungskonzeption, welche die Rechte der Gesellschafter und der noch stärker beeinträchtigen würden, wäre mit dem GG nicht vereinbar22. Hiermit geht einher, daß die vorhandenen Kompetenzen des Aufsichtsrates streng gehandhabt und nicht ausufernd ausgelegt werden. Der Begriff der Kontrolle in § 111 Abs. 1 AktG ist daher tatsächlich auf eine echte Kontrolle zu beschränken, die auf den wirklichen Entscheidungsprozess und die Ausübung des unternehmerischen Ermessens keinen entscheidenden Einfluß haben darf. Eine Kontrolle der Zweckmäßigkeit, auch im Wege einer laufenden Beratung des Geschäftsführungsorgans, durch ein mitbestimmtes Organ würde die Grenzen der Sozialbindung des Eigentums sprengen und wäre grundgesetzwidrig.

 

Beim mitbestimmten Aufsichtsrat ist somit eine über die Rechtmäßigkeitsprüfung hinausgehende Beratung und Zweckmäßigkeitskontrolle schon im Wege verfassungskonformer Auslegung unzulässig.

 

 

5. Entsendungsrechte

 

Der gleiche Grundsatz, daß die Mitbestimmung nicht zu einer Verschiebung der Aufsichtsratskompetenzen führen kann, gilt auch für Entsendungsrechte (§ 101 Abs. 2 AktG). Die entsandten Aufsichtsratsmitglieder haben dieselben Pflichten und dieselbe Rechtsstellung wie die gewählten Mitglieder23.

 

Auch wenn es Sinn und Zweck von Entsendungsrechten ist, bestimmte stark am Unternehmen beteiligte oder an ihm interessierte Aktionäre eine Person ihres Vertrauens in den Aufsichtsrat entsenden zu lassen24, v.a. bei Unternehmen der öffentlichen Hand, die darauf bedacht sein müssen, daß das Gemeinwohl angemessen berücksichtigt wird, darf der Entsendungsberechtigte das Entsendungsrecht nicht dazu mißbrauchen, auf die Geschäftsführung in seinem Sinne Einfluß zu nehmen. Daher sind Weisungen an das Aufsichtsratsmitglied allenfalls in Form von allgemeinen Richtlinien zulässig, soweit diese nicht in Widerspruch zu den Pflichten des Aufsichtsrates stehen25. Kollidieren die Interessen der Aktiengesellschaft und des Entsendungsberechtigten, so haben stets die Interessen der Aktiengesellschaft Vorrang. Dies gilt auch insoweit, als Weisungsrechte ausdrücklich gesetzlich festgelegt sind, wie z.B. in § 65 Abs. 5 BHO; solche Weisungsrechte betreffen ausschließlich das Innenverhältnis, entfalten aber gegenüber der Aktiengesellschaft keinerlei Wirkung.

 

Das entsandte Aufsichtsratsmitglied würde also seine Pflichten verletzen, wenn es im Interesse des Entsendungsberechtigten unzulässigen Einfluß auf die Geschäftsführung nehmen würde. Für eine über das nach der hier vertretenen Ansicht nach zulässige Maß hinausgehende Beratung gilt nichts anderes. Das entsandte Aufsichtsratsmitglied darf nicht versuchen, im Wege der Beratung die Interessen seiner Entsendungsberechtigten der Geschäftsführung nahezubringen; es würde dadurch seine organschaftlichen Pflichten verletzen und wäre nach §§ 116, 93 AktG schadensersatzpflichtig.

 


1 Fitting/Wlotzke/Wißmann § 25 MitbestG Rdnr. 77; Raiser § 25 MitbestG Rdnr. 105; BGHZ 83 S. 106; allgM; a.A. ersichtlich nur Meilicke/Meilicke §§ 25-29 MitbestG Rdnr. 30 hinsichtlich Aufsichtsratsvergütung unter Hinweis auf das Fehlen einer § 4 Abs. 3 MontanMitbestG entsprechenden Vorschrift.

2 Raiser § 25 MitbestG Rdnr. 106.

3 Kroneberg S. 8.

4 Canaris, DB 1981 Beilage 14 S. 1 ff; Martens, DieAG 1976 S. 119.

5 Kroneberg S. 8; in diesem Sinne auch: Raiser § 25 MitbestG Rdnr. 9, der von einem Vorrang des MitbestG vor dem Gesellschaftsrecht ausgeht.

6 Kroneberg S. 15.

7 Martens, DieAG 1976 S. 119; Hoffmann/Lehmann/Weinmann § 25 MitbestG Rdnr. 3; u.a.

8 Martens, DieAG 1976 S. 119.

9 BT-DruckS 7/2/72 S. 17.

10 Raiser § 25 MitbestG Rdnr. 9; Fitting/Wlotzke/Wißmann § 25 MitbestG Rdnr. 8; Mittelmeinung: Kroneberg S. 18 ff.

11 Kroneberg S. 5 f; merkwürdigerweise auch Fitting/Wlotzke/Wißmann § 25 MitbestG Rdnr. 9, die ja von einem Vorrang des Mitbestimmungsrechts ausgehen.

12 Martens, in: Der GmbH-Konzern S. 130.

13 Rowedder-Rittner GmbHG Einl. Rdnr. 139.

14 BVerfGE 50 S. 341 f.

15 BVerfGE 50 S. 340 f.

16 BVerfGE 50 S. 342 f.

17 Vgl. dazu auch Rowedder-Rittner GmbHG Einl. Rdnr. 149.

18 BVerfGE 50 S. 352.

19 BVerfGE 50 S. 323, 343.

20 BRDruckS 200/74 S. 16.

21 BVerfGE 50 S. 323.

22 Rowedder-Rittner GmbHG Einl. Rdnr. 149.

23 BGHZ 36 S. 306.

24 GroßKomm-Meyer-Landrut § 101 AktG Anm. 9; BGHZ 36 S. 307.

25 GroßKomm-Meyer-Landrut § 101 AktG Anm. 18; BGHZ 36 S. 306.

 

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